Sie hatten nicht mehr zu bieten als eine gehörige Portion Mut und den Willen zu helfen und es gab nicht wenige, die ihr Unterfangen mitleidig belächelten. Heute weiß man, dass an jenem 20. August 1948 die einzige Möglichkeit gefunden wurde, der Enge in Gräfelfing beizukommen. Somit sollten die Namen der Gründer hier nicht vorenthalten werden.

Gründergremium:
Franz Basalyk
Dr. Paul Diehl
Wilhelm Eipelt
Karl Fotter
Robert Gäbler
Karl Gerchsheimer
Peter Götz
Gottfried Hientsch
Maria Jokiel
Manfred Kosak
Hans Maidorfer
Rudolf Neumann
Anton Preis
Georg Rupprecht
Franz Rücker
Adalbert Sagmeister
Udo Seifert
Johann Völkl
Johann Winter
Alfred Würfel

Im Vergleich zu den vielen Gräfelfingern, die von der Wohnungsnot unmittelbar oder auch am Rande betroffen waren, mutet die Zahl der Gründer der Genossenschaft ausgesprochen bescheiden an.

Der Grund dafür ist nicht schwer zu erraten, man räumte dem Unternehmen kaum eine Chance ein. Ganz anders Bürgermeister Dr. Diehl, der in einer Gemeinderatssitzung im Januar 1949 eindringlich auf die katastrophale Wohnungssituation in Gräfelfing hinwies. Er hatte einen Plan, der auf der Überlegung basierte, dass nur Selbsthilfe einen Ausweg bringen kann.

Die Gräfelfinger Bürger sollten der Genossenschaft Geld als Grundkapital leihen, damit zusammen mit einer hypothekarischen Belastung die Voraussetzungen für ein erstes Bauvorhaben gegeben waren.  3 Prozent Zinsen und zwanzig Monate Laufzeit waren vorgesehen. Dr. Diehl, felsenfest von seiner Idee überzeugt, ging als Werber für die gute Sache von Tür zu Tür und was nur die größten Optimisten zu hoffen wagten, trat ein, 500 Bürger zahlten insgesamt 150.000 DM.

Dieser Betrag war die Basis für die Gewährung einer ersten Hypothek durch die Kreissparkasse München in Höhe von 200.000 DM bei einem Zinssatz von 3 Prozent und einprozentiger Tilgung.

Der bayerische Finanzminister Dr. Kraus, selbst Gräfelfinger Bürger, war beeindruckt vom Selbsthilfewillen seiner Mitbürger und versprach tatkräftige Unterstützung. Die Gemeinde, finanziell selbst in prekärer Lage, stellte den Baugrund im Erbbaurecht zur Verfügung, die große Angerwiese zwischen Würmstraße und Würm.

 
Nicht minder wichtig für den Fortgang der Bemühungen waren die guten Kontakte des damaligen Obmanns Johann Winter, des Vorstandmitglieds Johann Völkl und des Aufsichtsratsvorsitzenden Gottfried Hientsch.

Damit das Bauvorhaben seinen Zweck erfüllen konnte, musste unbedingt massiert gebaut werden. Weil diese Art der Bebauung in Gräfelfing bisher überhaupt nicht üblich war, galt das allgemeine Bemühen einer sorgfältigen Planung und einer weitgehenden Schonung vorhandener Grünflächen.

Um diese Absicht mit möglichst vielen Bebauungsvorschlägen abzusichern, beschloss die Gemeinde in Zusammenarbeit mit der Regierung von Oberbayern und dem Verband Bayerischer Architekten einen Wettbewerb auszuschreiben. Am Wettbewerb beteiligten sich 13 Architekten, Baumeister und Diplomingenieure, die der Aufgabenstellung mit großem fachlichen Können und Einfühlungsvermögen gerecht wurden.

Neben den Planern hatten die Gemeinde Gräfelfing, Bürgermeister Dr. Diehl, die Beschlussorgane der Wohnungsbaugenossenschaft, der Siedlungsreferent der Regierung von Oberbayern Dr. Otto Schütz und der Berufsverband der Architekten und Bauingenieure, vertreten durch Regierungsbaumeister Georg Gsaenger, maßgeblichen Anteil an der Verwirklichung einer Baumaßnahme, die einen ersten Schritt zur Behebung der Wohnungsnot bedeutete. Der Beurteilung der eingereichten Arbeiten nahm sich ein Preisgericht an, dem neben den bereits genannten Herren noch Ministerialrat von Miller, Architekt Albert Voelter, Oberbaurat Erdmannsdorfer und Rechtsanwalt Gottfried Hientsch angehörten.

Es wurden in sachlicher und weitschauender Weise die Architekten preisgekrönt, die die Gewähr für die Verwirklichung der Gesamtkonzeption boten und die sowohl finanziell wie vom Platzbedarf hierfür zu realisieren waren.

Die Namen der Preisträger:
1. Preis: Dipl. Ing. Hans Rach
2. Preis: Architekt Heinrich Hermann
3. Preis: Dipl. Ing. Willi Haase (Mitarbeiter Dipl. Ing. M. Neugebauer)

Die eingereichten Arbeiten wurden am 26. und 27. März 1949 in der Gräfelfinger Turnhalle öffentlich ausgestellt und erfreuten sich großem Interesse.

Das Beispiel Gräfelfing erregte überall große Aufmerksamkeit und die Presse würdigte die Initiative aus dem Würmtal. Das Beispiel Gräfelfing machte Schule. Als zweite Stadt wandte Göppingen das Verfahren an.

Die Ausführung des 1. Bauabschnittes wurde den ersten und dritten Preisträgern, den Herren Hans Rach und Willi Haase, übertragen. Im Juni 1949 wurde mit der festlichen Grundsteinlegung der Bau von 14 Häusern mit 56 Wohnungen mit einer Gesamtwohnfläche von 2.960 m² in Angriff genommen. Verblüffend war die zügige Abwicklung des Bauvorhabens. Denn vom ersten Spatenstich am 13. Juni 1949 bis zum Bezug der Wohnungen im Januar 1950 war nur ein knappes halbes Jahr vergangen.

Von insgesamt 56 Wohnungseinheiten wiesen sechzehn je vier und die übrigen drei Zimmer mit Bad und Toilette auf. Die Baukörper waren zweigeschossig und entsprachen zumindest in der Höhe der umliegenden Bebauung. Als Baumaterial wurde der neuartige Beco-Stein verwendet, der aus langfaserigen Holzspänen, Zement und einem chemischen Bindemittel hergestellt wurde. Die Steine hatten eine sehr gute Wärmedurchgangszahl. 16 cm Becowand entsprachen 86 cm Ziegelwand. Die Entscheidung zugunsten der Beco-Bauweise fiel erst nach eingehenden Untersuchungen durch die Technische Hochschule und durch das Forschungsheim für Wärmeschutz.

 
Die schlichte Ausstattung der Wohnungen umfasste in der Kochnische einen kombinierten Gas-Kohleherd, der zunächst auch zur Beheizung der Wohnung dienen musste, ein Spülbecken und einen eingebauten Wandschrank. Die Bäder waren von kaum mehr vorstellbarer Einfachheit. Die Einrichtung bestand aus einem Waschbecken und einer Klosettschüssel. Eine Heizung und selbst die Badewanne blieben zunächst Wunschvorstellung. Warmes Wasser für körperliche Reinigungszwecke musste auf dem Küchenherd bereitet werden. Allerdings trug man gehobeneren Ansprüchen schon weitschauend Rechnung, denn alle Wasserzu- und ableitungen sowie die Gasleitungen waren im Rahmen der Installationsarbeiten bereits verlegt.

Heute würde man eine derart bescheidene Ausstattung sicher nicht mehr in Kauf nehmen. Aber die Erstmieter schätzten sich glücklich, abgeschlossen in den eigenen vier Wänden wohnen zu können. Die gemeinsame Benutzung von Küche und Bad und die damit verbundenen Reibereien hatten ein Ende, man war nicht mehr geduldeter und nicht sehr geschätzter Untermieter. Genauso glücklich waren die Gräfelfinger Hausbesitzer, die nun endlich wieder frei über ihren Besitz verfügen konnten.

Das private Mobiliar der ersten Mieter war in den meisten Fällen spartanisch und einfach. Aus Kisten und Brettern gebastelte Möbelstücke, Vorhänge aus Windeln und Mulltüchern und sogar die Matratzen am blanken Fußboden minderten nicht die Freude über ein neues Wohngefühl. Nach und nach wurden auch Kohleöfen für die Wohnzimmer angeschafft.

Die Mietkosten betrugen 1950 pro Quadratmeter eine DM, was bei 60 Quadratmetern etwa 20 Prozent des damaligen Durchschnitts-Monats-Einkommens entsprach. Das war eine durchaus zumutbare Belastung, aber die 300 DM Geschäftsanteil aufzubringen, bedeutete für manchen Genossenschafter ein finanzielles Abenteuer.

Ein großes Problem stellten die Außenanlangen dar. Sie waren nach Abschluss der Bauarbeiten in einem erbärmlichen Zustand. Große finanzielle Sprünge konnte man nicht machen, also musste ein Wunder geschehen, oder zumindest etwas ähnliches.

Eine amerikanische Pioniereinheit wurde zum Retter in der Not. Ende April 1950 rückten sie mit schwerem Gerät an und verpassten den schmucken weißen Häusern eine Umgebung, die sich sehen lassen konnte. Die Schuttberge wurden beseitigt, Humus angefahren und die Straßen planiert. Die Aktion erregte großes Aufsehen und wurde von der Presse ausführlich gewürdigt. Selbst Oberst Sam P. Graham, Officer der Munich Military Post, fuhr den ganzen Tag über eine gewaltige Planierraupe und auch der damals allgegenwärtige George H. Godfrey war stundenlang auf dem Angergelände.

Von 1950 an ging es beinahe Schlag auf Schlag. Der zweite Bauabschnitt mit 8 Häusern, 58 Wohneinheiten und einer Gesamtwohnfläche von 2.636 m² wurde schon 1951 begonnen und am 1. Februar 1952 bezogen.

Die in Ziegelbauweise errichteten Gebäude waren bereits besser ausgestattet als die ersten Häuser, hatten anstatt des Riemenbodens einen Estrich mit Kunststoffbelag und die Häuser 21 bis 27 wiesen erstmals kleine Balkone auf.

Bauabschnitt II war noch nicht bezogen, da wurde schon der dritte, allerdings etwas kleinere Bauabschnitt, begonnen. Die Wohnungen waren im Durchschnitt größer, hatten an Stelle der Kochnische kleine Küchen und nach Westen gerichtete Balkone. Die vier Baukörper mit insgesamt 36 Wohnungen und 1.761 qm unterschieden sich auch in der Anordnung von den bisherigen Bauten, die alle in Nord-Süd-Richtung parallel zur Würmstraße angelegt waren.

Die Häuser 18 bis 24 waren in Ost-West-Richtung senkrecht zur zentralen Grünanlage situiert. Schon am 1. Dezember 1952 konnten die Mieter die Wohnungen beziehen. Bis 1965, also in 16 Jahren, waren 8 Bauabschnitte erstellt, die im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten dem gestiegenen Komfortbedürfnis Rechnung trugen.

 
Die Wohnungen waren größer, wurden mit kompletten Bädern ausgestattet und erhielten einen Küchenblock sowie Parkettfußböden.

Als mit dem Bezug des Bauabschnittes VIII das Mietwohnprogramm abgeschlossen war, standen auf der ehemaligen Angerweide 16 Gebäude mit 41 Häusern, 270 Wohnungen mit einer Gesamtwohnfläche von 13.250 m².

Zu diesem Zeitpunkt gab es im ganzen Würmtal keine größenmäßig vergleichbare Wohnanlage.

Der Traum von Bürgermeister Dr. Diehl war in Erfüllung gegangen und die Wohnungsbaugenossenschaft Gräfelfing e. G. hat ihren Gründungszweck, nämlich die Wohnungsnot in Gräfelfing entscheidend zu lindern, voll erfüllt.

1976 wurde die letzte Baumaßnahme abgeschlossen, nämlich die Errichtung von 12 Eigentumswohnungen.

Mit der Erstellung von Wohnungen war es in den vergangenen sechzig Jahren nicht getan. Im Laufe der Zeit wurden 67 Garagen errichtet.

Von Anfang an hat man Am Anger großen Wert auf die Eingrünung gelegt. Üppiger Baum- und Sträucherbestand und gepflegte Rasenflächen haben die gesamte Anlage zu einer grünen Oase werden lassen.

Auf der West- und Ostseite ist der Baumbestand so dicht, dass die einzelnen Häuser kaum mehr zu erkennen sind. Aus der baumlosen Viehweide am Anger ist zusammen mit den Erholungsflächen unmittelbar an der Würm eine Parklandschaft entstanden.

Den Bedürfnissen der Kinder, von denen es besonders in den Anfangsjahren ganze Legionen gab, wurde schon immer Rechnung getragen. Den kleinen Spielplätzen im Zentrum der Siedlung folgte 1958 im Rahmen der Verwirklichung von Bauabschnitt VI der große Kinderspielplatz im Osten unserer Anlage und im Rahmen einer kleinen Feierlichkeit wurde dieser am 27. Juni der Gemeinde übergeben.

 
Auch jetzt erfreut sich der Spielplatz mit Bolzplatz großer Beliebtheit. Später wurden zwei Stockbahnen und ein Boule-Platz von der Gemeinde angelegt.

Bei einer Anlage, deren Wohnbestand zum größten Teil älter als fünfzig Jahre ist, muss der Instandhaltung und Modernisierung größte Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Das beginnt beim Außenputz. Isoliermaßnahmen, Kunststofffenster mit Isolierglas und Kunststoff- Fensterläden als Ersatz für die reparaturanfällige Holzlösung erhöhen die Wohnqualität wesentlich.

Außerdem erfolgte eine Modernisierung der Treppenhäuser.

Die äußere Kosmetik wurde mit der Neueindeckung aller Dächer und der Ausführung der Dachrinnen und Verblechungen in Kupfer fortgeführt.

Bei Wohnungswechseln findet in der Zwischenzeit eine Generalüberholung bzw. -sanierung der Wohnungen statt.

Neben der sanitären Installation werden auch die Fußböden erneuert.

Vermehrt werden auch in Häusern Zentralheizungen eingebaut. So wird der Wohnungsbestand Zug um Zug den neuen Anforderungen gerecht.

Die Abwasserleitungen wurden in den letzten Jahren im ganzen Straßengebiet bzw. zu den Häusern und in den Häusern erneuert.

Um den neuen Richtlinien zu entsprechen, wurden Außen- und Kellerisolierungen notwendig.

Wenn sich die Gelegenheit ergibt, werden Wohnungen zusammengelegt, um die Attraktivität des Wohnraums und den Bedürfnissen unserer Mieter gerecht zu werden.

Leider können wir nicht alle Wünsche erfüllen.

Wenn auch der Bautätigkeit aus Platzgründen Grenzen gesetzt sind, Arbeit gibt es Am Anger immer. Die Instandhaltung eines großen Wohnbestandes und die notwendigen Sanierungsarbeiten erfordern Aufmerksamkeit und Einsatz der Verwaltungsgremien.

Neben den bereits genannten Mitgliedern der Gründungsgremien und den derzeit amtierenden Angehörigen von Vorstand und Aufsichtsrat, sei allen gedankt, die Arbeitskraft und Freizeit in den Dienst der Genossenschaft gestellt haben und noch stellen.

Wenn es gilt, verdiente Mitglieder der Genossenschaft zu würdigen, stehen neben dem geistigen Vater Dr. Paul Diehl ganz oben die Namen von Johann Winter und Johann Völkl.

Die Wohnungsbaugenossenschaft Gräfelfing, aus der Not geboren, ist vielen Gräfelfinger Familien, paaren und Singles Heimat geworden und ist als charakteristischer Bestandteil des Gräfelfinger Ortsbildes nicht mehr wegzudenken.

Den jetzigen Gremien gilt es, unseren Dank auszusprechen.

Dem Vorstand und Aufsichtsrat ist für die Zukunft eine glückliche Hand und den Bewohnern ein Bleiben in Zufriedenheit und Harmonie zu wünschen.

 

Chronik zum 60. Jubiläum der Wohnungsbaugenossenschaft Gräfelfing eG:
1948 – 2008

Text:
Sigi Segl

Überarbeitung:
Marion Platt
Helmut Platt
Hans Staber

Beiträge:
Franz Rücker
Marion Platt
Helmut Platt